Nachlese: „Die ‚Russen‘ kommen – und bleiben.“ Das Kriegsende 1945 in Sachsen-Anhalt und was es mit heute zu tun hat

Alle Ostdeutschen gleichsetzen wolle sie keinesfalls, doch die Studienergebnisse seien deutlich: Viele Bewohner der ehemaligen DDR bewerteten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine signifikant anders als die Mehrzahl der Westdeutschen. Zufällig ist diese Bestandsaufnahme der Gegenwart nicht, wie die Historikerin Prof. Dr. Silke Satjukow nun während eines Vortrags am Standort Magdeburg des Landesarchivs Sachsen-Anhalt nachzeichnete. Unter dem Titel „Die ‚Russen‘ kommen – und bleiben“ verdeutlichte sie vor mehr als 80 Interessierten ebenso kenntnisreich wie verständlich, was das Kriegsende 1945 mit heute zu tun hat – und lud anschließend zu einer regen Diskussion ein.
Als die Alliierten des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren Deutschland besetzten, war damit auch der Beginn eines Zusammenlebens von Siegern und Besiegten verbunden. Während in den westlichen Besatzungszonen fortan US-Amerikaner, Briten und Franzosen den Alltag der einheimischen Bevölkerung beeinflussten, waren dies in der östlichen Besatzungszone die Sowjetrussen.
Einer Erforschung der „Besatzer. ‚Russen‘ in Deutschland 1945 bis 1994“ widmete sich Prof. Dr. Silke Satjukow bereits umfassend im Rahmen ihres gleichnamigen Habilitationsprojekts. Seit 2017 ist die renommierte Historikerin Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte der Neuzeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und seit 2023 zudem stellvertretende Vorsitzende der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit erkennt sie einen wesentlichen Ausgangspunkt für die unterschiedliche Wahrnehmung der Russen bis in die Gegenwart: „Die Westdeutschen haben immer gesagt: Wenn die Russen kommen, ist alles vorbei.“ Aufgrund weitgehend fehlender direkter Kontakte mit der russischen Bevölkerung und des Kalten Krieges blieb dieses Bild in der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte präsent.

Unmittelbar nach 1945 dominierte der wechselseitige Hass auch in der sowjetisch besetzten Zone: „Die sowjetischen Soldaten haben nicht verstanden, warum dieses reiche Deutschland die Sowjetunion überfallen hat“, erklärte Prof. Satjukow. „Sie waren wütend, extrem wütend“ – schließlich hatten sie unerwartet in einen Krieg ziehen müssen, nicht selten ohne Wehrausbildung und Waffe.
„Nimm‘ dir, was immer Du brauchst“ sei eine Maxime auf Flugblättern gewesen, der die russischen Soldaten nach Kriegsende folgten. Grauenhafte Erfahrungen aus den Vernichtungslagern, ein grassierender Alkoholismus und Gruppenzwänge führten zu zahlreichen Straftaten: „Das entschuldigt es nicht, ganz klar. Aber es erklärt, warum so massenhaft deutsche Frauen vergewaltigt wurden, warum geplündert wurde.“ Eine Folge: tausende stigmatisierte „Russenkinder“; so dürften alliierte Soldaten mit deutschen Frauen bis Mitte der 1950er Jahre mindestens 400.000 Besatzungskinder gezeugt haben.
Zwangsläufig trat neben diesen Hass bald ein Näheverhältnis, indem die etwa 11 Millionen Sowjetsoldaten und Zivilbeschäftigen in die Häuser der Ostdeutschen einquartiert wurden. „Das bedeutete aber auch, dass man sich abends in den Küchen traf“, erklärte die aus Weimar gebürtige Historikerin: „Man kochte, man trank, man tanzte, man kam sich Tag für Tag auch näher; es kam zu Beziehungen, zu Freundschaften, zu allem Möglichen, was Sie sich vorstellen können.“ Zwar zogen die Mannschaftsdienstgrade ab 1947 in die Kasernen um, doch blieben viele Sowjetrussen in deutschen Häusern wohnen.
Noch drei Jahre vor dem Truppenabzug im Jahr 1994 lebten rund eine halbe Million sowjet-russischer Soldaten und Zivilangestellter auf dem Gebiet der einstigen DDR, es gab mehr als 700 Militärstandorte und -objekte. Freundschaften, Handel, Arbeitsbeziehungen – die Verflechtungen mit der ostdeutschen Bevölkerung waren vielfältig.

Hierin bestehe ein wesentlicher Aspekt für die unterschiedliche Bewertung des aktuellen russischen Angriffskrieges, so Satjukow: „Die Ostdeutschen glauben, die Russen zu kennen.“ Zudem hätte sie die kommunistische Ideologie, die der zentralistische Staat DDR „von der Wiege bis zur Bahre“ vermittelte, unabhängig von ihrer persönlichen Haltung geprägt. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ wirke unterbewusst nach.
Auch jüngere Generationen seien davon nicht ausgenommen: „Es ist vollkommen klar, dass Eltern zuhause am Küchentisch Geschichten erzählen, ihre Geschichten. Und die Kinder glauben diese Geschichten. Das heißt, diese Weitergabe dauert an. Und das beurteile ich gar nicht, wir müssen nur damit umgehen“, so die Historikerin.
Wichtig allerdings sei es, einfache Vorurteile zu überwinden, da Russland auch nach dem Ende seines Angriffskrieges ein Nachbar Europas sein werde: „Nutzen wir es als Chance, mehrere Perspektiven zu kennen, als nur die eine“, appellierte die Hallenser Historikerin dementsprechend an ihr Publikum – „dann kommt man zu keinem vorschnellen Urteil.“