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Präsentationsveranstaltung zum neuen QuellenNAH-Heft

Seit über 600 Jahren leben Sinti und Roma auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Dennoch waren sie im Laufe der Geschichte immer wieder Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt. Während des Holocaust wurden sie systematisch verfolgt und ermordet. Der Anteil von Sinti und Roma an der europäischen und deutschen Geschichte wird in den Schulen bislang jedoch kaum thematisiert, ihre Ermordung während des Holocaust nur beiläufig erwähnt. Vielfach prägen noch immer Vorurteile das in der Öffentlichkeit wahrnehmbare Bild von Sinti und Roma. 
Vor diesem Hintergrund forderten der Zentralrat der Sinti und Roma und das Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas Ende 2022 in einer gemeinsamen Erklärung mit der Kultusministerkonferenz der Bundesländer, die Beschäftigung mit der Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma zu intensivieren, um Vorurteilen und Antiziganismus in der Gesellschaft entgegenzutreten. 
Mit Heft 9 der Reihe QuellenNAH unter dem Titel „Sinti und Roma in Sachsen-Anhalt: Zwischen Antiziganismus und Selbstbehauptung“ kommt das Landesarchiv Sachsen-Anhalt gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt und dem Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung dieser Forderung nach. Anhand einer didaktisch aufbereiteten Quellenauswahl zeichnet das Heft nicht nur die Geschichte der Sinti und Roma auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt nach, sondern sensibilisiert für Vorurteile und diskriminierende Sprache. 
 

Die Präsentation des neu erschienenen Heftes fand am 9. Dezember 2024 im Vortrags- und Ausstellungsraum des Landesarchivs in Magdeburg statt. Der Leiter des Landesarchivs, Dr. Detlev Heiden begrüßte ca. 50 Gäste und erläuterte den Stellenwert der QuellenNAH-Reihe: Die archivgesetzliche Aufgabe des Nutzbarmachens und Auswertens von Archivgut erschöpft sich nicht in einer einfachen Bereitstellung, vielmehr gilt es, durch historische Bildungsarbeit alle Interessierten an eine eigenständige Benutzung heranzuführen. Das Landesarchiv hat sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht, verstärkt Beiträge zur historischen Identitätsbildung in Sachsen-Anhalt, zur Erinnerungskultur und zur Demokratieförderung zu leisten. Aus diesem Anspruch erwuchs die Reihe QuellenNAH, die sich auf Geschichtszugänge im regionalen Kontext und fokussiert und mit dem Untertitel „Geschichte erleben“ die Grundidee des archivpädagogischen Angebots formuliert. Mit QuellenNAH können Lehrkräfte, die das Archiv mit ihren Schülerinnen und Schülern nicht besuchen können, dennoch quellenbasiertes Lernen in den Unterricht einzubeziehen. 
Obgleich es sich mittlerweile um ein anerkanntes Projekt der historischen Bildungsarbeit und Demokratieförderung auch in Sachsen-Anhalt handelt, bleibt seine Perspektive leider offen: Angesichts eines fortgesetzten Personalabbaus und des Fehlens einer Stelle für Archivpädagogik konnte das Projekt bislang nicht verstetigt werden und bleibt von Drittmitteln abhängig. 
 

Mehmet Daimagüler (Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland) betonte in seiner Videobotschaft die bislang in der deutschen Gesellschaft vernachlässigte Auseinandersetzung mit dem Völkermord an Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und die anschließende, fortgesetzte Diskriminierung. Der heutigen Diskriminierung von Sinti und Roma könne nur begegnet werden, indem eine gemeinsame Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfinde. Das neue QuellenNAH-Heft böte hierfür eine wichtige Grundlage und nehme hierbei eine deutschlandweite Vorbildfunktion ein. 

Eva Feußner (Ministerin für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt) unterstrich die Bedeutung der QuellenNAH-Reihe und lobte die Vermittlung eines professionellen Zugangs zu historischen Quellen, der schulübergreifend Heranwachsende zu einer kritischen Auseinandersetzung mit historischen Themen befähigt. 
 

Klaus Zimmermann (Staatssekretär im Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt) dankte den beteiligten Projektpartnern und hob den bereichernden Austausch mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und dem Verein Menda Yek e. V., in dem sich Nachkommen der verfolgten und ermordeten Opfer organisiert haben, hervor. Gerade dank des Austausches mit den Nachkommen konnten die Projektverantwortlichen ein Verständnis für die Perspektiven der Betroffenen entwickeln. Insbesondere sprach Zimmermann der Autorin des Heftes, Verena Meier seine Anerkennung aus, mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit und der dabei gewachsenen Vernetzung Türen geöffnet zu haben. 

Romani Rose (Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma) sprach von einer Vorreiterrolle Sachsen-Anhalts in bei der Aufarbeitung des Holocausts an Sinti und Roma sowie im Engagement gegen Antiziganismus. Nachdem 1998 in Magdeburg das erste Holocaust-Mahnmal für die Sinti und Roma errichtet wurde, stelle Sachsen-Anhalt nun erstmals eine fundierte Quellensammlung zur Geschichte der Sinti und Roma auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes zur Verfügung. Durch die Einbeziehung der Perspektive der Sinti und Roma werde ihre Geschichte nicht auf die Opferrolle reduziert, sondern gezeigt, dass sie ein aktiver Teil der Gesellschaft sind. 

Verena Meier (Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg, vorm. Landesarchiv Sachsen-Anhalt) stellte schließlich das Konzept des aktuellen Heftes vor und vermittelte einen Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sinti und Roma. Unter anderem führte sie den Kontrast zwischen Eigenwahrnehmung und vorurteilsbeladenen Fremdzuschreibungen anhand des Klischees der Wahrsagerin anschaulich vor Augen. 
Die Fremdzuschreibungen führten in der Vergangenheit auch dazu, dass sich in der Überlieferung der Polizeistellen bis ins 20. Jahrhundert hinein sogenannte „Zigeunerpersonalakten“ befinden. Abgesehen von der diskriminierenden Sprache behandeln sie keinesfalls nur Sinti und Roma, sondern generell Personen, welche die den Sinti und Roma zugeschriebenen Negativeigenschaften aufzuweisen scheinen. 
Tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelte Vorurteile begünstigten den Völkermord an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus. Gleichwohl betonte Meier, dass Sinti und Roma in der Geschichte nicht auf ihre Opferrolle reduziert werden sollten, denn sie traten immer wieder als Individuen auf, die mit Gesuchen und Eingaben aktiv für ihre persönlichen Rechte eintraten. 
 

Margitta Steinbach (1. Vorsitzende Menda Yek e. V.) knüpfte in ihrem Plädoyer für eine aktive Einbeziehung der Sinti und Roma in die Erforschung ihrer Geschichte an die Ausführungen von Meier an und wies nachdrücklich darauf hin, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftliche Diskriminierung fortgesetzt wurde. 

Im Rahmen der anschließenden Podiumsdiskussion reflektierten Verena Meier und Margitta Steinbach die bisherige Zusammenarbeit und die Bedeutung eines engen Austauschs. Hierbei spielt insbesondere das Totengedenken aus Sicht der Betroffenen eine wichtige Rolle und stellt die historische Forschung ebenso wie die Umsetzung archivgesetzlicher Personenschutzfristen vor Herausforderungen.

Während personenbezogene Akten regelmäßig 30 Jahre nach dem Tod der betroffenen Person zugänglich gemacht werden, fordert Menda Yek die Achtung des Andenkens der Verstorbenen. Da die Akten, die zu ihren Vorfahren angelegt wurden sich bereits diskriminierender Sprache bedienen, kann eine Veröffentlichung auch Jahrzehnte nach dem Tod der Betroffenen ihre Nachkommen ebenfalls diskriminieren. Steinbach stellte klar, dass Menda Yek damit keineswegs eine wissenschaftliche Erforschung der Geschichte ihrer Vorfahren einschränken möchte, sondern lediglich Wert darauf legt, dass die Perspektive der Betroffenen berücksichtigt und das Andenken ihrer Vorfahren respektiert wird. Sie fordert deswegen einen Austausch auf Augenhöhe. 

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion stellten Michael Viebig (Leiter der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)) und Heike Böltzig (Elisabeth-Gymnasium Halle (Saale)) das Sinti-Mausoleum Osendorf vor. Dort war 1915 der Sinto Josef „Nauni“ Weinlich beigesetzt worden. Dieses befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofs und steht seit 1998 unter Denkmalschutz. Mit der Entwidmung des Friedhofs 2012 erfolgte eine Notsicherung durch die Stadt. 2016 wurden durch den Zeitgeschichte(n)-Verein Halle in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale) Stolpersteine für Sinti verlegt, die in Auschwitz starben, darunter auch die Nachfahren Weinlichs. Gemeinsam mit einem wachsenden Netzwerk verfolgt die Gedenkstätte ROTER OCHSE das Ziel, die Kapelle zu bewahren und mit pädagogischen Projekten für die Geschichte der Sinti und Roma zu sensibilisieren. 

Die Veranstaltung wurde musikalisch von Manolito Steinbach (Solo- und Rhythmusgitarre) und Sorin Ferat (Violine) begleitet. 

Das neue QuellenNAH-Heft kann über die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt bestellt werden. Das Onlineangebot der Reihe QuellenNAH, das auch das Heft 9 über Sinti und Roma in Sachsen-Anhalt enthält, finden Sie hier