9. bis 15. November: Offene Grenze
„Die Lage“, so urteilte am frühen Nachmittag des 9. November 1989 die SED-Kreisleitung Wernigerode, „ist sehr angespannt und spitzt sich weiterhin zu.“
Die Massenflucht setzte sich fort, und die Zusammensetzung des neuen bzw. alten Politbüros ließ keine Zukunftsperspektiven erkennen.
Die DDR-Welt geriet nach vier Jahrzehnten innerhalb weniger Tage aus allen Fugen. Die Quellen spiegeln erneut die Ungleichzeitigkeiten einer erfolgreichen Revolution und der beharrlichen Reste des gewohnten Alltags wieder - wofür hier zwei Beispiele stehen sollen:
Letztmalig wurden am Tag nach dem Fall der Mauer die alljährlichen Auszeichnungsrituale zum Tag der Chemiearbeiter vollzogen.
Und unbeeindruckt von Mauerfall, Parteizerfall und Staatsverfall wurde Mitte des Monats im Kulturhaus der Bunawerke Achim Mentzels Hitparade aufgezeichnet.
Die dramatische Entwicklung dieser Tage einer erstmals offenen Staatsgrenze erschließt sich auch in der Überlieferung von SED und Staat. Sorgfältig registrierten interne Lageberichte nicht nur die alltäglichen Konsequenzen der Grenzöffnung („Internationales Fernmeldnetz total überlastet“, „deutlicher Rückgang der Teilnahme am Sonnabendunterricht“), sondern auch die „Stimmungen und Meinungsäußerungen“:
Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Magdeburg mühte sich drei Tage nach dem Mauerfall, den Schein einer ungebrochenen Funktionsfähigkeit von Staat und Wirtschaft zu wahren:
Immer neue (und immer offenere) Diskussionen setzten im November 1989 ein – wie hier in den Leuna-Werken oder im Diskussionsbeitrag des Chefredakteurs einer SED-Zeitung, der jetzt forderte, „daß auf allen Ebenen Kommentieren und Gängelei ein für allemal der Vergangenheit angehören“.