Verzeichnis der von den israelitischen Einwohnern zu Sandersleben erwählten bleibenden Familiennamen, 1822
Quellenkritische Einordnung
Das Führen fester Familiennamen blieb der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts weitestgehend fremd. Jedoch war es bei einem Teil der jüdischen Familien schon seit der Frühzeit üblich, dem Namen des Kindes den Namen des Vaters als Beinamen hinzuzufügen. Gelegentlich wurden auch andere Beinamen gewählt, die einen Hinweis auf den Beruf oder eine Angabe zum Herkunftsort enthielten. In einigen Städten, in denen größere jüdische Gemeinden bestanden, gaben sich einzelne jüdische Familien dauerhaft und ohne amtliche Genehmigung bereits einen beständigen Beinamen. Letzteres blieb aber eine Ausnahme. In der Regel wurden Beinamen nur zeitweise von einer bestimmten Person verwendet und nur selten auf andere Familienmitglieder übertragen.
Die Praxis der jüdischen Namensgebung verursachte erhebliche Schwierigkeiten bei der eindeutigen Identifizierung einzelner Personen und ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen. Durch die recht häufig vorkommende Namensgleichheit bestand eine hohe Verwechslungsgefahr, was Konfliktpotential barg. Zudem wurde eine amtliche Erfassung der jüdischen Einwohner behindert. Gesetzliche Regulierungen sollten die bestehenden Probleme beheben.
Unter dem Einfluss aufklärerischer Ideen und in Auswirkung der Französischen Revolution wurden in mehreren deutschen Territorialstaaten Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts Patente und Edikte erlassen, die den Juden erstmals staatsbürgerliche Rechte zugestanden. Im Rahmen dieser heute als Emanzipationsgesetze bezeichneten Bestimmungen wurden die Juden zur Annahme fester Familiennamen verpflichtet, so etwa 1810 im Herzogtum Anhalt-Bernburg und 1812 im Königreich Preußen. Im Herzogtum Anhalt-Dessau dagegen erfolgte die Einführung bestimmter und bleibender jüdischer Familiennamen erst Jahre später aufgrund einer herzoglichen Verordnung vom 4. November 1821. Danach hatten die Justizämter die von den israelitischen Familienoberhäuptern innerhalb einer Frist von sechs Wochen gewählten Familiennamen in speziellen Verzeichnissen zu erfassen, die die Landesregierung mit einer amtlichen Bekanntmachung vom 23. Februar 1822 in der Ausgabe der „Herzoglich Anhalt-Dessauischen wöchentlichen öffentlichen Nachrichten“ vom 16. März 1822 publizieren ließ.
Die im Landesarchiv Sachsen-Anhalt in schriftlicher und gedruckter Form noch heute überlieferten Verzeichnisse der gewählten israelitischen Familiennamen stellen eine wertvolle Quelle für lokal- und regionalgeschichtliche Forschungen dar. Sie enthalten Angaben zum Wohnort, zum bisher geführten Namen und künftigen Familiennamen, teilweise auch Hinweise auf verwandtschaftliche Beziehungen, sodass beispielsweise Erkenntnisse über die Anzahl der jüdischen Haushalte am jeweiligen Ort oder über genealogische Zusammenhänge zwischen den jüdischen Einwohnern gewonnen werden können.
Inhaltliche Einordnung
Das hier exemplarisch präsentierte „Verzeichniß der von den Israeli[ti]schen Einwohnern zu Sandersleben erwählten bleibenden Familiennamen“ reichte der dortige Amtmann nach seiner Erstellung am 22. Januar 1822 bei der Landesregierung in Dessau ein. Tabellarisch sind darin die „alten“ und die „neuen bleibenden Namen“ von insgesamt 43 Erwachsenen und 72 Kindern aufgeführt. Auf Antrag des Sanderslebener Juden Hirsch Cohn vom 13. Februar 1822 wurde der von ihm favorisierte Familienname „Cohn“, den eine andere Person ebenfalls gewählt hatte, nachträglich in „Jonas“ geändert.
Nach Veröffentlichung der im Herzogtum Anhalt-Dessau von den Israeliten gewählten Familiennamen im März 1822 konnten innerhalb von 3 Monaten Einsprüche gegen die Namenswahl erhoben werden. Nur in wenigen Fällen mussten Juden sich aufgrund von Beschwerden christlicher Bürger für einen anderen Nachnamen entscheiden. Die Landesregierung gab die Änderungen und gleichzeitig die definitive Feststellung der Familiennamen am 17. Dezember 1822 bekannt. Die inländischen Israeliten sollten „sich derselben von nun an in allen und jeden Privat- und öffentlichen Geschäften bedienen, auch die Behörden sie nicht anders als unter diesen Familiennamen anerkennen“.
Überlieferungsgeschichte
Sowohl das Konzept als auch die Ausfertigung des vorgestellten Namensverzeichnisses der Sanderslebener Juden sind in den betreffenden Akten des Justizamtes Sandersleben und der Landesregierung Dessau erhalten geblieben. Diese im Pertinenzbestand „Z 44 Abteilung Dessau“ der Gliederungsgruppe „C 15 Die Judenschaft“ zugeordneten Archivalien können online recherchiert und digital eingesehen werden.
Die Akte mit den hier vorgestellten Namensverzeichnissen finden Sie hier.