Vortrag zur DDR-Heimerziehung
Der Vortrag von Ingolf Notzke M. A. von der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau zum Thema „Heimerziehung in der DDR: Historische Einordnung, aktuelle Relevanz und Überlieferungsschwerpunkte“, der am 6. Juni 2019 in der Abteilung Merseburg des Landesarchivs Sachsen-Anhalt stattfand, ist auf gute Resonanz gestoßen.
Für das anwesende Publikum war vor allem interessant zu erfahren, wie hochgradig strukturiert das DDR-Heimerziehungssystem tatsächlich war. Demnach sind für das Gebiet Sachsen-Anhalts knapp 190 Heimeinrichtungen der DDR-Jugendhilfe bekannt. Darunter fallen sog. Normalheime und ca. 48 Spezialheime. Die Spezialheime konnte man wiederum unterteilen in Aufnahme-, Durchgangs- und Spezialkinderheime sowie Jugendwerkhöfe. Die Spezialheime, auf denen der Fokus des Vortrags lag, unterstanden dem jeweiligen Referat Jugendhilfe auf Bezirksebene und diese wieder einer Zentralstelle für Jugendhilfe. An der Ver-waltungsspitze der DDR-Jugendhilfe stand wiederum die Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung der DDR. Hinzu kamen Sondereinrichtungen wie der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau und das Kombinat der Sonderheime. Letztere unterstanden direkt der Abteilung Jugendhilfe im Ministerium für Volksbildung der DDR.
Bei einem Blick hinter die Fassade dieser auf den ersten Blick unverfänglich wirkenden Strukturierung im DDR-Heimerziehungssystem wird schnell deutlich, dass das zu Grunde liegende Erziehungskonzept nicht in erster Linie den Fürsorgegedanken und schon gar nicht das heute übliche Partizipationsprinzip in den Vordergrund stellte. Vielmehr waren gerade die Spezialheime der Aufgabe verpflichtet, durch Disziplinierung, Bestrafung und Arbeit eine Umerziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ zu erreichen. Denn für Kinder und Jugendliche, die sich nicht an die Norm hielten, die individuelles Verhalten an den Tag legten oder die durch sozial abweichendes Verhalten auffielen, war in der sozialistischen Gesellschaft kein Platz. Sie wurden in die Spezialheime der DDR-Jugendhilfe, also in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe, zur „Umerziehung“ eingewiesen.
Als Einweisungsgründe wurden dabei offiziell angegeben:
• Disziplinarschwierigkeiten im Elternhaus, in der Schule und Öffentlichkeit
• „Deliktische Kinderhandlungen“, also Einbrüche, Diebstähle etc.
• Disziplinschwierigkeiten (z. B. Schulbummelei)
• schwere strafbare Handlungen (z. B. Körperverletzung)
• aber auch sog. staatsgefährdende Handlungen (Republikflucht bspw.).
Am Ende des DDR-Heimerziehungssystems stand der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Hier sollte die „Umerziehung“ von Jugendlichen, die sich dem sozialistischen Normgefüge hartnäckig verweigerten, mit allen Mitteln umgesetzt werden. Die dortige Unterbringung kam einem Gefängnisaufenthalt gleich. Über die dortigen repressiven und von Gewalt geprägten Zustände informierte Notzke bildgewaltig.
Am Schluss des Vortrages berichtete Notzke über den aktuellen Stand der Rehabilitierungspraxis im Bereich der DDR-Heimerziehung sowie über etwaige Recherchemöglichkeiten für Betroffene.
Zu diesen Recherchemöglichkeiten gehört auch die archivalische Überlieferung der Abteilung Merseburg. So verwahrt die Abteilung Merseburg bspw. vom Jugendwerkhof Wittenberg Verwaltungs- sowie Heimakten aus dem Zeitraum 1947 bis 1980. Vom Jugendwerkhof Bernburg sind zumindest die Heimakten aus dem Zeitraum ab 1973 erhalten. Auch ist auf die Heimakten zum Jugendwerkhof Eckartsberga sowie vom Spezialkinderheim Pretzsch hinzuweisen. Eine wichtige Quelle stellt darüber hinaus die Heimkinderkartei des Bezirkes Halle dar, die offenbar von der Heimeinweisungsstelle beim Rat des Bezirkes Halle angelegt wurde.